Let’s DETOX THE D(T)OXIC SYSTEM TOGETHER
Gedanken über Selbstverständlichkeiten und Utopien
Krisen fungieren als Lupen. Sie spitzen Zustände zu und sorgen für mehr Sichtbarkeit – auch von in der Gesellschaft sehr tief verankerten und für unsichtbar gehaltenen Strukturen und Mechanismen.
Die Covid-19 Zeit hat vorherrschende ökonomische und gesellschafts-politische
Systeme auf große Probe gestellt. Eine Sehnsuchtsstimmung nach der Normalität vor Corona
kursiert durch Großteil der Mainstream-Medien.
Dabei frage ich mich ob es so etwas wie die
Normalität überhaupt gibt? Und ist diese gleich normal für alle?
Denn Normen sind Gesellschaftskonstrukte und daher sehr subjektiv. Das für normal gehaltene vorherrschende Strukturprinzip, das
in der bürgerlich-kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft Denken, Fühlen
und Handeln
anleitet, basiert auf Trennung
nach binär-hierarchischen heteronormativen Prinzipien (in männlich/weiblich, Weiß-Sein/NichtWeiß-Sein, Jung/Alt, Reich/Arm, Gesund/Krank etc.) und Asymmetrie
(basierend auf Vorteile mancher Gesellschaftsgruppen auf kosten Anderer).
Welche Norm (=das Selbstverständliche in einer Gesellschaft) dient als Ausgangspunkt der Entscheidungstreffer*innen bei der Regulierung des gesellschaftlichen Lebens während der aktuellen Covid-19 Pandemie? Und welche unsichtbare, uns noch nicht ganz bewusst gewordene Macht (Bourdieu nennt diese Doxa) dulden wir seit Jahrhunderten, weil sie als Norm fungiert?
Gesellschaftsstrukturen werden von Menschen gemacht. Gesellschaftsstrukturen machen Menschen.
Wem dient die Norm?
Hier ein paar aktuelle Beispiele für die unsichtbare (oder doch sichtbare und geduldete) Gewalt der einen
Normalität.
Von mir Selbstverständlichkeiten
genannt:
Selbstverständlichkeit #1
Gender Pay Gap
Das alte und immer noch sehr aktuelle Thema
Gender Pay Gap
– in Deutschland verdienen Frauen 20% weniger als Männer.
Eine finanzielle Asymmetrie in der Partnerschaft, die zusätzlich noch durch ungleiche Arbeitszeit-Modelle verstärkt wird, lässt leider so gut wie keinen Raum für Diskussionen, wer zuhause bleibt (vor und während der Corona-Zeit) meist die weniger Verdienenden. Da Statistiken immer noch von einer geschlechtlichen Binarität ausgehen (Mann/Frau, Mutter/Vater), bleibt mir gerade wenig Raum für eine gendergerechte Sprache. Viele Frauen berichten über eine extreme Überforderung in der aktuellen #stayhome-Situation, bedingt und verstärkt durch ihre multiple Rolle als unbezahlte Allround-Care-Giver*in. Ganz selbstverständlich
schlüpft sie in multiple Rollen der Kindergärtnerin, Lehrer*in, Köchin, Partnerin, Liebhaberin, Arbeiterin. Und macht sich dabei vielleicht noch Sorgen um die (eigene) weibliche Armut im Alter und wie diese zu verhindern ist.
Wie entstigmatisiert ist der laut Patriarchat als weiblich kodierte häusliche Bereich, selbst bei Paaren, die sich als ‚gleichberechtigt’ bezeichnen würden?
Okay, lasst uns gemeinsam nach Alternativen suchen. Eine Möglichkeit wäre eine adäquat bezahlte Doppelteilzeit und eine gleichberechtigte Aufteilung der Haushaltsarbeit bei einer endgültigen Entstigmatisierung dieser Frauendomäne. Ein nicht nur gender-neutral sondern gender-equal
denken und leben von Arbeit wird benötigt – Gleichberechtigung bezüglich Arbeitszeiten und Bezahlung.
Denn diese, für selbstverständlich gehaltenen, Etiketten sind nicht natürlich, sondern naturalisiert
(Bourdieu), sie liegen nicht in der Natur der Dinge sondern in der Logik der männlich kodierten Weltordnung. Das doxische
Gift wird uns im Zuge der Sozialisierung (meist unbemerkt oder doch bemerkt) kontinuierlich injiziert und macht
uns zu Wesen, die nach Geschlecht, Herkunft, Klasse, Alter, Gesundheit klassifiziert werden.
Wenn es sich dabei um ein Konstrukt handelt, warum fällt es uns so schwer gesellschaftlich und kollektiv die Zuschreibungen abzulegen und die symbolische Macht zu entmachten? Wahrscheinlich, weil wir in die doxische Struktur hineingeboren werden. Weil die männlich kodierte Weltordnung seit Jahrtausenden als die ultimative Wahrheit fungiert. Weil diese Macht kein (wirtschaftliches) Interesse an Inklusion und Gleichheit hat, da sie durch Exklusion und Trennung entstanden ist und nur so weiterhin existieren kann. Solange privilegierte Menschen unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Klasse, Alter und Gesundheit vom bestehenden patriarchalen System profitieren, gibt es kein großes Bedürfnis, dieses zu entmachten. Gleichgewicht und Gleichberechtigung kann nur durch Abgeben von bestehenden Privilegien entstehen. Das bedeutet nicht, dass die Gebenden dadurch ALLES verlieren werden. Nein. Dadurch werden einfach neue Maßstäbe gesetzt.
Ein neues System wird entstehen, bei dem nicht der heterosexuelle weiße Mann als Maß aller Dinge fungiert, auch nicht die Menschheit, meiner Ansicht nach, sondern das LEBEN (darunter verstehe ich den Planeten Erde in seiner Ganzheit).
Zurück zum normativen Verständnis von Arbeit und zur selbstverständlichen
40-Stunden-Woche. Wer hat diese zur ultimativen vollbezahlten Vollzeit erklärt? Das diese Regelung nicht im Sinne der Familie ist, hat die aktuelle Corona-Situation noch offensichtlicher gemacht. Sobald die Kinderbetreuungsstätten geschlossen waren und die Großeltern zur gesundheitlichen Risikogruppe erklärt wurden, stieg die Herausforderung bei berufstätigen Eltern enorm an.
Als eine inspirierende Alternative sehe ich das
4-in-1-Modell, vorgeschlagen von der Soziologin, Feministin und kritischen Psychologin
Frigga Haug. Dabei geht sie von einem 16-stündigen Arbeitstag aus, der in vier (Lebens-)Bereiche geteilt wird: Erwerbstätigkeit (4 Stunden pro Tag), Sorgearbeit um sich und andere (4 Stunden pro Tag), lebenslanges Lernen durch Entfaltung unserer Interessen, Talente und Fähigkeiten (4 Stunden pro Tag) und gesellschaftspolitisches Engagement (4 Stunden pro Tag).
Finde ich großartig. Und die ultimative Zeit, es gesellschaftlich umzusetzen ist JETZT.
Selbstverständlichkeit #2
Altersarmut von Frauen
(als Folge von #1)
Die weibliche Armut im Alter
scheint mir gesellschaftlich einfach als ein Fakt, eine geduldete Tatsache angenommen zu sein.
Als Lösungsvorschläge werden wachsende Beratungsangebote zum Thema Frau und Geld gemacht. Beratung für Frauen zum Thema (alternative) Altersvorsorge, Workshops, die Frauen zu mehr Risikobereitschaft bei Investitionen und Geldanlegen ermutigen wollen etc. Alles wichtig, keine Frage.
Ich frage mich aber trotzdem, welche adäquate Rolle können Frauen als Investorinnen in einer androzentristischen Wirtschaft (aufgebaut nach den Prinzipien einer männlichen Herrschaft und basierend auf Ausbeutung und Asymmetrie) verkörpern?
Ohne die Transformation des Systems haben wir keine Chance zu agieren, sondern nur auf das alt Bestehende zu reagieren.
Der Status quo vermittelt mir das Gefühl, dass Frauen als Zielgruppe fungieren – von der Zielgruppe der Hausfrauen zur Zielgruppe der arbeitenden Frauen. Die Tatsache, dass Workshops und Sachbücher zum Thema Umgang mit Finanzen für Frauen hoch im Kurs sind, sagt extrem viel über die verselbstverständlichte ‚Normalität’ aus, und über das vorherrschende Denken in Binaritäten und in geschlechter-spezifischen Zuschreibungen. Wird uns (unterschwellig oder doch offensichtlich) vermittelt, dass Frauen weniger vom Umgang mit Geld verstehen als Männer? Gibt es Selbstoptimierungs-Angebote zum Thema Männer und Geld?
Wie könnten neue Systeme, neue, nicht ausbeuterische Wirtschaften entstehen?
Angefangen mit einer radikalen Ehrlichkeit uns selbst gegenüber, denke ich. Angefangen mit dem eigenen Leben, gelebt nach der eigenen Wahrheit. Angefangen mit dem eigenen Alltag.
Was erfüllt mich in meinem Alltag und was raubt mir Kraft? Wie lebe ich meine Rollen in der Familie, Arbeit und Gesellschaft? Was ist mit meiner Stimme – spreche ich klar und laut meine Wünsche und Bedürfnisse aus – immer und überall? Welche Kompromisse gehe ich täglich ein? Dient dieser Akt mir oder einem vorherrschenden System (z. B. dem Familien-System, der Firma)?
Wie oft wird gesagt ‚Es ist halt so, was soll man machen’, ‚Es ist schwierig’, ‚Es gibt nicht genügend Kita-Plätze’, ‚Es gibt nicht genügend Arbeitsplätze’. Wer sagt das? Warum? Weil Kitas bezahlte Carework sind (auch wenn leider ungenügend entlohnt, da weiblich kodierter Beruf) und der Staat kann sich leisten, in dem Bereich zu sparen, da es noch genügend unbezahlte Carework gibt. Auf wessen kosten?
Zum Arbeitsplätzemangel (zusätzlich durch Corona zugespitzt): Würden wir Job Sharing (nur als eine Möglichkeit von vielen) als Arbeitsmodell für alle denken und leben (nicht nur für Eltern), würde die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze unmittelbar steigen. Wenn wir die 4 Stunden als Vollzeit bezahlte Arbeit
als das neue Vollzeit-Modell (the new normal)
anerkennen, dann werden wir in einer gesünderen und zufriedeneren Gesellschaft leben. Und die Wirtschaft wird nicht darunter ‚leiden’, davon bin ich überzeugt. Denn es wird weniger Arbeitslosigkeit geben. Außerdem glaube ich fest an die Gleichung: gesunde Menschen=gesunde Wirtschaft=gesunde Welt. Mit gesund meine ich lebensbejahend.
Ein reflektiertes Erkennen
gesellschaftlicher Machtverhältnisse, ein Reflektieren der eigenen Rolle und (Mit-)Verantwortung gepaart mit lösungsorientierten Aktionismus ist, meiner Ansicht nach notwendig, um positive Veränderungen weiter fortzusetzen.
Oft wird das Matriarchat als eine bessere Alternative zum Patriarchat diskutiert. Das sehe ich nicht als eine adäquate Lösung, da wir dabei wieder in binären Strukturen und Abgrenzungen gefangen bleiben. Intersektional gedacht, sind es nicht ausschließlich Frauen, die von der herrschenden Ordnung benachteiligt sind. Bourdieu spricht von einer außerordentlichen Verletzlichkeit der Männer und betont, dass sowohl die Beherrschten als auch die Herrscher der binären Ordnung zum Opfer fallen (z. B. der Hochleistungsdruck und die Angst vom Versagen, boys don’t cry etc.). Denn auch die Herrscher*innen (darunter verstehe ich auch Frauen in Machpositionen) müssen auf sich selbst (ihren Körper, Psyche und Praxen) das Schema der binären Ordnung anwenden, indem sie Karriere, Sexualität und ihre Gesellschaftsrollen nach den Prinzipien einer männlichen Herrschaft leben. Hoffentlich nicht mehr lange.
WE ARE ALL IN THIS TOGETHER. Lasst uns die doxische, toxische Weltordnung GEMEINSAM detoxen. Angefangen bei sich selbst.
P.S. Dieser Text ist als Beginn einer Serie von #Selbstverständlichkeiten und Utopien gedacht. Fortsetzung folgt.